Zwei Jahre nach einer Pionierrecherche in Sheins südchinesischen Produktionsbetrieben zeigt eine Nachrecherche, was die Nachhaltigkeitsrhetorik des Online-Moderiesen wert ist. Illegale Arbeitszeiten und Akkordlöhne prägen weiter den Alltag der befragten Arbeiter*innen. Entsprechend zweifelhaft wirkt ein von Shein beauftragtes Fabrik-Audit. Misstrauen weckt der unter Druck geratene Wegwerfmode-Konzern zudem durch seine undurchsichtigen Finanzen und den von der Bildfläche verschwundenen Gründer.
"Ich arbeite täglich von 8 bis 22:30 Uhr und habe einen Tag im Monat frei. Mehr freie Tage kann ich mir nicht leisten, die Kosten dafür sind zu hoch." Das berichtet ein Mann, der seit über 20 Jahren an Nähmaschinen sitzt und zum Zeitpunkt der Befragung im Akkord die besonders gut sichtbaren Umschlagnähte für Shein-Produkte anfertigte. Unsere Recherchepartner trafen ihn und 12 weitere für Zulieferer des chinesischen Ultra-Fast-Fashion-Konzerns tätige Textilarbeiter*innen im Spätsommer 2023. Und zwar in Produktionsstätten, die ein wenig westlich von Nancun Village, aber immer noch in der südchinesischen Metropole Guangzhou liegen.
TLDR:
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Befragte berichten über durchschnittliche Tagesarbeitszeiten – abzüglich Mittags- und Abendessenspause – von 12 Stunden, und zwar zumindest an sechs, meist aber sogar sieben Tagen die Woche. Bei einem Betrieb wurde eine verbindliche Nachtschliessung festgestellt – allerdings auch erst um 23 Uhr.
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Weder Shein noch die drei Prüforganisationen SGS, TÜV Rheinland und Intertek geben Einsicht in ein durchgeführt Audit. Die Webkurzfassung hinterlässt eher den Eindruck einer reaktiven PR-Botschaft, denn einer professionellen Analyse.
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Die öffentlich verfügbaren Daten enthalten die erzielten Einkommen ohne Berücksichtigung der dafür geleisteten Stunden. Das ist aber ungefähr so sinnvoll wie die Geschwindigkeitsmessung bei einem Wettlauf mit Stoppuhr, aber ohne Bezug zur Streckenlänge, so Public Eye in seiner Studien. Dabei waren und sind es ja gerade die überlangen und – auch nach chinesischem Gesetz – illegalen Arbeitszeiten, die in der Kritik stehen. Dieses Hauptthema komplett auszublenden und stattdessen auf angeblich überdurchschnittliche Lohnhöhen zu verweisen, ist Whataboutism in Reinform.
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Der Vorgesetzte in der Endabnahme einer Fabrik gibt an, dass sein Betrieb für jede mangelhafte Charge mit der Streichung eines Auftrags «bestraft» würde. Und fehlbare Näher*innen, die aufgrund der kleinen Aufträge problemlos identifiziert werden können, haben den Befragten zufolge unbezahlte Nacharbeit zu leisten. «Wer den Fehler macht, ist dafür verantwortlich. Man muss die eigene Arbeitszeit aufwenden, um das Problem zu beheben», erklärt ein etwa 50-jähriger Vorarbeiter.
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Eine Person gibt an, dass nachlässige Kontrolleure sogar eine Geldstrafe zwischen 300 und 1000 Yuan leisten müssten, je nach Zustand der bemängelten Charge. Diese Praxis dürfte den Druck, unter dem die nach Stückzahl entlöhnte Belegschaft sowieso schon steht, noch beträchtlich erhöhen.
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Intransparent bleibt Shein auch bezüglich seiner Struktur, Gewinne und Eigentümerinnen. Marktpräsenz in über 150 Ländern, 19 Büros mit 11’000 Angestellten, Kooperationen mit 4600 Designerinnen und mehr als 5000 Lieferanten: Das sind die spärlichen Unternehmenszahlen, die Shein auf seiner Webseite veröffentlicht. Für einen Weltkonzern, der sich angeblich auf den Börsengang vorbereitet und diesen Januar laut Bloomberg 45 Milliarden Dollar wert gewesen sein soll, sind das äusserst dürftige Fakten.
Laut Public Eye ist die Politik alarmiert, aber handelt (noch) nicht:
Der unveränderte Überstundenexzess wie auch die anderen Ergebnisse unserer Nachrecherchen zeigen, dass Shein ohne externen Druck nicht mehr soziale Verantwortung übernehmen wird. Würde ein Börsengang den Wegwerfmode-Konzern zu mehr Nachhaltigkeit zwingen? Wohl kaum. Die jüngsten Milliardeninvestitionen zeigen, dass es nach wie vor genug Geldgeber gibt, die das Geschäftsmodell von Shein als Profitchance und das Greenwashing nicht als Anlagerisiko betrachten.
Den wirksamsten Hebel zur Behebung der aufgezeigten Missstände haben aber Parlamente und Regierungen. Bei unserer Pionierrecherche 2021 war Shein noch ein recht neues Phänomen. Drei Jahre später aber kann die Politik die Probleme, welche der Konzern verursacht, nicht mehr ignorieren – auch weil Temu inzwischen in die Online-Fussstapfen von Shein getreten ist, mit einer noch grösseren Palette an Billigstwaren. Tatsächlich zeigen diverse Vorstösse in Frankreich, der EU, den USA wie auch der Schweiz: Die Gesetzgeber*innen sind alarmiert. Doch haben sie auch den Mut, die Fast-Fashion-Konzerne endlich effektiv in die Schranken zu weisen? Und das nicht bloss mit einem schwachen «Lex-Shein», um der unter Druck geratenen Modebranche die Billigkonkurrenz aus China vom Hals zu halten. Sondern ganz grundsätzlich. Denn was es braucht, ist eine Modeindustrie, in der niemand mehr im 12-Stunden-Akkord Kleider nähen muss, die erst rund um die Welt geflogen werden und dann kaum getragen im Müll landen.
Danke Geschwisti ❤️